Vorfrühling der Anarchie

Anarchistische Ideen und Bewegungen lassen sich seit der Antike mehr oder minder umfänglich nachweisen. »Vorfrühling der Anarchie«1) nannte der Wiener Anarchist Max Nettlau (1865–1944) treffend diese Frühzeit jenes klassischen Anarchismus, wie er Mitte des 19. Jahrhunderts entstand und seither in einem Auf und Ab wie einem Nebeneinander unterschiedlichster anarchistischer Strömungen und Bewegungen besteht. Die Ursprünge der Anarchismen in Österreich liegen sicher weit zurück und sind wohl nur schwer zu erkunden, doch lassen sich Anfänge festmachen.

Am Beginn jener organisierten Arbeiterbewegung, innerhalb der sich erste anarchistische Bewegungen in Österreich entwickelten, standen einzelne Handwerker. Beispielsweise kam der Magdeburger Frauenschneidergeselle Wilhelm Weitling (1808–1871) im Mai 1834 auf seiner Wanderschaft erstmals nach Wien, wo er bis zum April 1835 blieb und bei verschiedenen Schneidermeistern im Dienst stand. Im Jänner 1836 trieb es Weitling erneut in diese Stadt. Er wohnte nun in Untermiete in der Alservorstadt 315 (Niederösterreich [zu Wien 9.]) und arbeitete als selbstständiger Schneider. Aber er suchte auch, Anhänger für seine kommunistischen Überzeugungen zu gewinnen. Zumindest in zwei Mitbewohnern seines Untermietzimmers fand er Mitkämpfer: die Brüder Joseph Schestag (1818–?), Lackierergeselle, und Carl Schestag (1819–1893), Schneidergeselle. Weitling, über dessen Wiener Zeit ein ausführlicher Polizeibericht vom Jänner 1844 informiert,2) verließ im Juli 1837 Wien Richtung Paris (Frankreich), wohin ihm die Brüder Schestag folgten. Hier wurden sie Mitglied von Wilhelm Weitlings »Bund der Gerechten«. Nach ihrer Rückkehr in die Reichs- und Residenzhauptstadt Wien Anfang 1844 wurden Joseph und Carl Schestag als Anhänger Weitlings verhaftet, wegen Hochverrats zum Tod verurteilt, vom Kaiser begnadigt und am 19. Juni 1844 zu einem Jahr beziehungsweise zu acht Monaten Kerker verurteilt. Weitling ist zwar kein Anarchist, sondern ein autoritärer Kommunist. Einige seiner Schriften wurden jedoch später auch in anarchistischen Kreisen gelesen und in teils positiv aufgenommen.3) Auch Joseph und Carl Schestag waren zweifellos keine Anarchisten. Sie gehören aber zu den ersten namentlich bekannten Opfern staatlicher Verfolgung einer sich organisierenden Arbeiterbewegung in Österreich.

Zu dieser Zeit hielt sich auch der aus Siebenbürgen stammende Friedrich Krasser alias Hermann Krasser (1818–1893) in Wien auf. Er hatte 1838 an der Universität Wien ein Studium der Medizin begonnen, welches er 1844 mit seiner Dissertation »De coxalia« (Über Hüftgelenkschmerzen) als Doktor der Medizin abschloss. 1845 begab er sich für fünf Monate nach Paris (Frankreich), wo er die Freiheitsbestrebungen der Arbeiterschaft kennenlernte. Nach Wien zurückgekehrt, setzte er sein Studium an der Universität fort, welches er 1846 als Doktor der Chirurgie abschloss. Die Wiener Zeit prägte seine ihn später auszeichnende sozialistische und antiklerikale Haltung. Nach eigenen Angaben war es ein Besuch als angehender Arzt bei einer in einem Kellerloch lebenden Wiener Arbeiterfamilie, der ihn zum Sozialismus brachte. Dies veranlasste ihn, noch in Wien ein sozialistisches Programm auf moralisch-ethischer Grundlage auszuarbeiten. Und in Wien wurde auch seine religionskritische Haltung grundgelegt, was ihm unter seinen Kommilitonen den Spitznamen »Reformator« einbrachte. Dieser Freidenker und Sozialist wurde später vor allem als Schriftsteller bekannt, dessen Dichtungen von vielen Anarchistinnen und Anarchisten geschätzt wurden. Vor allem sein radikal-antiklerikales, gegen den 1864 von Papst Pius IX. (1792–1878) veröffentlichten Enzyklika-Anhang »Syllabus Errorum« (Verzeichnis der Irrtümer) gerichtetes Gedicht »Anti-Syllabus« hatte es Anarchistinnen und Anarchisten angetan. Dieses 1869 erstmals publizierte Werk wurde von ihnen unzählige Male nachgedruckt.4) Friedrich Krasser verließ Wien 1846 und ließ sich als praktischer Arzt zunächst in seinem Geburtsort Mühlbach / Szászsebes (Großfürstentum Siebenbürgen [Sebeş, Rumänien]), schließlich 1850 in Nagyszeben / Hermannstadt (Ungarn [Sibiu, Rumänien]) nieder.

Als bemerkenswerter Einschnitt für sozialistische, kommunistische, anarchistische Bewegungen gilt das Revolutionsjahr 1848, auch in Österreich, insbesondere in den Zentren der habsburgischen Monarchie: Wien, Prag (Böhmen [Praha, Tschechien]) und Budapest (Ungarn). Allerdings war diese Revolution – im Gegensatz etwa zu jener in Frankreich – für anarchistische Bewegungen in Österreich weitgehend bedeutungslos.

Siehe auch:

Das Revolutionsjahr 1848 in Österreich. Eine anarchistische Spurensuche

Das Intermezzo des Sozialdemokraten Johann Most in Österreich. 1868 bis 1871

Autor: Reinhard Müller

Version: Graz, im Oktober 2023

© 2023 Reinhard Müller, Graz

1) Vgl. Max Nettlau: Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864. Berlin: Verlag »Der Syndikalist« 1925 (= Beiträge zur Geschichte des Sozialismus, Syndikalismus, Anarchismus. 1.).

2) Abgedruckt in Ludwig Brügel (1866–1942): Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie. Erster Band: Vom Vormärz bis zum Wiener Hochverratsprozeß, Juli 1870. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung 1922, S. 38–39. Vgl. dazu auch Wolfgang Häusler (geb. 1946): Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848. Wien – München: Jugend & Volk 1979, 560 S.

3) Vgl. zum Beispiel den Nachdruck von Wilhelm Weitling: Gerechtigkeit. Ein Studium in 500 Tagen- Bilder der Wirklichkeit und Betrachtungen des Gefangenen. Nachwort von Ahlrich Meyer. Berlin: Karin Kramer Verlag 1977, 379, [21] S.

4) Vgl. dazu Sebastian Prüfer (geb. 1964): Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863–1890. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. 152.), S. 79–81.